Grad noch Digital Twin, jetzt Digital Thread – Warum wir am Ende doch nur PLM machen

 

Gerade eben saß er noch auf der Blogcouch und hat ein Interview gegeben, jetzt teilt er sein Wissen und seine Erfahrungen auch in einem Gastbeitrag. Ich freue mich sehr darüber, Markus Ripping, global verantwortlich für das PLM bei Sartorius, als Gastautor für den PLM-Blog gewonnen zu haben. Aber jetzt genug der einleitenden Worte und viel Freude beim Lesen seines Artikels.

Insbesondere, weil PLM schwer zu erklären ist und sich noch schwerer im Innenverhältnis von Industrie-Betrieben wirtschaftlich verkaufen lässt, wird in der Branche in den vergaIst der Digital Thread das neue PLM?ngenen Jahren in der Hoffnung auf Aufmerksamkeit bei Entscheidern eine Buzzword-Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben. An den wesentlichen Schwerpunkten der PLM-Arbeit und an der Wichtigkeit, insbesondere in Hinblick auf die für viele Industrien bitter nötige Digitalisierung, hat sich aber nichts geändert. Buzzwords schaffen Begehren auf der C-Ebene, welche aktuell bei der Trägheit und Change-Aversion bestehender Organisationen zum Scheitern verurteilt sind. PLM ist schon schwer genug. Wir sollten es nicht noch versuchen, sexy zu machen.

In den Jahren, in denen ich mich im PLM-Umfeld bewegt habe war der Begriff „Product Lifecycle Management“ nie stabil. Über die Jahre sind verschiedene Themenkomplexe hinein- und wieder herausinterpretiert worden. Aber der Terminus PLM war immer da. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Zu meinem großen Bedauern.

Früher war es der nächste logische Schritt auf dem steinigen Weg eines professionalisierten Produktentstehungsprozesses. Man nannte es PLM, auch wenn man eigentlich noch PDM machte. Das war in einer Zeit, als es auch schon schwierig war, PLM zu verkaufen. Denn es war schon immer schwierig, PLM zu verkaufen. Ich komme aus der Beratung, aber ich meine nicht PLM-Beratung. Ich meine den Buy-In des Industrie-C-Level.

Warum wir uns das alles überhaupt antun? „PLM implementieren ist leichter, als es zu verkaufen“. Wir kennen alle die Sprüche. Man hat sich abgemüht, Gelder zu bekommen und hat komplexeste Systemlandschaften gebaut, alles basierend auf anfangs ziemlich dünnen Business Cases und mit optimistischen ROIs. Warum? Weil PLM Grundlagen schafft. Weil PLM vieles besser macht, aber fast nichts davon direkt. Im PLM-Umfeld gibt es eine Häufung von Berufs-Optimisten. Leute, die die Probleme von heute schon vorgestern gesehen haben. Und die versucht haben, Weichen zu stellen für eine Zukunft, die sie selbst noch nicht verstanden. Man kannte zwar nicht den Weg, aber zumindest hatte man eine Ahnung vom Ziel.

Wohin geht PLM?Heute kennen wir die Ziele. Die „hippen“ High-Tech-Unternehmen machen uns vor, wie man agil wird und durch Agilität weiterkommt. Wie man nicht mehr nur Produkte besser macht, sondern gleich komplett neue Business-Modelle schafft – am besten gleich ganz ohne lästige physische Produkte. Everything as a Service. Das schafft Begehrlichkeiten. Insbesondere bei den hochrangigen Entscheidern. Begehrlichkeiten, die PLM zwar nicht alleine befriedigen kann, für dessen Befriedigung in vielen Industrien PLM aber einer der Schlüssel-Enabler sein kann.

Warum geht also PLM nicht ab wie ‘ne Rakete? Weil Entscheider PLM seit x Jahren kennen! „Wie kann etwas, das wir vor 15 Jahren schon versucht haben uns jetzt plötzlich in die goldene Zukunft bringen? Geht doch nicht!“ Eine genauso verständliche wie falsche Argumentation. Unsere Reaktion als PLM-Community? Anstatt PLM heute richtig zu machen mit den Mitteln, die uns 2018 frei zur Verfügung stellt und nicht mehr hilflos zu frickeln, wie es vor 15 Jahren zwangsweise nötig war, fallen wir auf die Argumentation herein und geben dem Kind einen neuen Namen. Wir nennen das ganze nicht mehr Produkt-Lifecycle-Management.  Neue Namen gibt es genug. Neue hehre Ziele ebenso.

PLM war zu abstrakt. Unter einem Digital Twin kann sich jeder etwas vorstellen – glaubt jeder, sich etwas vorstellen zu können. Aber für viele aktuelle Firmen ist ein (vollständiger) digitaler Zwilling heute genauso unerreichbar wie (noch) unnütz.

Genauso unstrukturiertes Datensammeln und -kippen in einen Data Lake. „Heute anfangen, keine Daten mehr verloren gehen lassen!“. Egal! Was ich heute im Zeitraum eines Jahres sammeln kann, kann ich in 5 Jahren in wenigen Tagen, vielleicht sogar Stunden sammeln.

Oder Künstliche Intelligenz, die heute noch weit, weit davon entfernt ist, intelligent zu sein. Man googele den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität.

Model Based System Engineering? AR/VR? Und nun Digital Thread? Aus Fäden macht meine Schwiegermutter warme Socken. Die sind toll, helfen aber der Industrie nicht weiter. Meiner zumindest nicht. Und sexy sind sie auch nicht.

Früher war jedes Ziel ein hehres Ziel. Heute bringen die Schritte auf dem Weg zu den Zielen die Organisation weiter. Nicht unbedingt das Ziel selbst. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass Buzzwords eine magische Eigenschaft mit sich bringen. Sie werden nie hinterfragt. „Brauchen wir das überhaupt? Was bringt es uns? Welche heute unmögliche Wertschöpfung erreichen wir?“. Selbst „Was kost‘ der Spaß?“. Solche Fragen stellen sich bei den Buzzwords nicht. Aber für mich sind die Buzzwords von heute die Zielgerade eines Marathon. Wo stehen die Organisationen heute? Manche sind schon losgelaufen. Aber andere sitzen noch auf der Couch, shoppen Laufshirts bei Amazon und träumen vom Training – in dem Irrglauben, es würde schon nicht anstrengend sein.

PLM ist antrengend

Aber es wird anstrengend! In der Welt des Product Lifecycle Managements ist anstrengend gleich komplex. Oft genug sogar kompliziert -> komplex -> chaotisch! Da geht auch gern mal was schief. Bei Erfolg sind die Gewinner oft die anderen. Die Nutznießer der Systeme. Bei denen wurde ein abstrakter Case nach einer Zeit des Einschleifens plötzlich selbstverständliches Handwerkszeug. Ohne leben: undenkbar. Verlierer durfte man im PLM-Umfeld immer gern alleine sein. Deswegen jetzt ausweichen und zu weit in die Zukunft blicken und vom Thema ablenken zählt nicht. Dazu ist der Weg auch heute noch immer zu steinig. Und auch heute können wir genug Themen aufgreifen, die uns und unsere Organisationen jetzt weiterbringt. Nicht erst morgen. Weiterhin abstrakt. Aber doch auch konkreter, als das vor Jahren möglich war. Mit modernen Werkzeugen. Und vielleicht endlich mal wirklich End2End und nicht nur mit einem starken Fokus auf die Produktentwicklung. Dafür aber als das, was es ist: PLM.

Es gibt das Sprichwort „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“. Wir sehen den Wald! Wir sollten nur vor lauter Vorfreude auf den Wald das Bäume pflanzen nicht vergessen. Die fehlen oft genug noch oder sind zwar da, aber schon morsch!