Auf meiner virtuellen PLM-Couch haben wieder zwei hochkarätige Gesprächspartner Platz genommen: Sven Mahn, Inhaber der Sven Mahn IT GmbH & Co KG und Wolfgang Enking, Verantwortlich für das Business Development im gleichen Unternehmen sprechen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen PLM- und ERP-Projekten.
Herzlich willkommen auf meiner virtuellen Blog-Couch, Herrn Mahn und Herr Enking. Ihre Namen sind mit dem Tool Microsoft Dynamics AX verbunden und man kennt Sie hauptsächlich aus dem ERP-Umfeld. Können Sie ein paar Worte zu Ihrem Werdegang verlieren?
Sven Mahn: Moin moin von meiner Seite. Ich bin vor 40 Jahren in Hamburg geboren, bin hier groß geworden und habe nach dem Abitur eine Lehre zum Beton- und Stahlbetonbauer abgeschlossen. Mit Computern und Software habe ich mich seit dem zehnten Lebensjahr beschäftigen dürfen, neben den Klassikern auf C16 und C64 habe ich bereits in dem Alter angefangen zu programmieren. Das hat mich im weiteren Verlauf zur Wirtschaftsinformatik in einem pharmazeutischen Produktionsbetrieb getrieben. Nach einem Verkauf des Unternehmens habe ich die vermeintliche Sicherheit im Konzern gegen die Selbstständigkeit getauscht. Seit 2005 sind wir nun erfolgreich am Markt, mittlerweile mit annähernd 50 Mitarbeitern.
Wolfgang Enking: Bevor ich bei Sven und seiner Sven Mahn IT GmbH & Co. KG anfing, hatte ich vier Jahre lang die Verantwortung für die Microsoft Dynamics AX Consulting-Organisation in EMEA. Dies war eine der interessantesten Aufgaben in meiner 20-jährigen Laufbahn bei Microsoft. Ich war bei Microsoft im Consulting und Service tätig und hatte dort die unterschiedlichsten Leitungsaufgaben. Vorher habe ich bei verschiedenen Unternehmen im Umfeld der Bürokommunikation gearbeitet. Auch nach über 30 Jahren Berufserfahrung bin ich immer noch begeistert über die Möglichkeiten, die moderne IT für die Evolution, also die Weiterentwicklung, der Unternehmen bietet.
Hatten Sie in Ihren Projekten bereits Berührungspunkte zum Thema PLM?
Sven Mahn: Regelmäßig. Letztendlich ist eine PLM-Software die Vorstufe des ERP-Systems. Eine enge Verzahnung der Prozesse ist nicht auszuschließen. Da wir keinen Branchenfokus haben, sind wir bereits in allen Arten der Produktion unterwegs gewesen, mit unterschiedlichstem Grad an Professionalität des PLM. Am spannendsten ist eine ERP-Implementierung immer dann, wenn PLM-Prozesse weder softwaregestützt noch dokumentiert sind, sprich die Kopfmonopole der Unternehmen, deren Rezepturen, Stücklisten oder Produktionsprozesse inklusive Attributverwaltung auf einzelne Mitarbeiter abzielen und von diesen abhängig sind.
ERP und PLM sind in vielen Fertigungsunternehmen zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Einführung eines Softwarewerkzeugs dieser Art ist immer eine besondere Herausforderung. Wo sehen Sie aus Ihrer Erfahrung heraus die größten Stolpersteine, ein Softwarewerkzeug dieser Tragweite in einem Unternehmen einzuführen?
Sven Mahn: In erster Linie sind es die Menschen, die sich selbst Stolpersteine in den Weg legen. Setzt man voraus, dass jeder Mitarbeiter auch am Erfolg und Erhalt seines Arbeitsplatzes interessiert ist, können diese Typen von Software dazu dienen, Arbeitsplätze zu vernichten. So die Wahrnehmung im ersten Schritt. Die Kommunikation des Ziels und der Ausrichtung des Unternehmens mit der neuen Software und den damit verbundenen Visionen ist unerlässlich. Hier wird häufig – wie man das heute so schön formuliert – nicht jeder gleich gut abgeholt. Nun gibt es in Unternehmen auch die bereits erwähnten Kopfmonopolisten, die sich eigentlich nicht um das Wohlergehen des Unternehmens, sondern den Erhalt der eigenen Spezies durch Wissensmonopole sorgen. Hier zeigt die Implementierung sehr schnell Grenzen auf bzw. bringt eine eventuell nicht auf Gegenliebe stoßende Transparenz in die Unternehmensabläufe. Dass mit dieser geschaffenen Standardisierung die Energie und das vermeintlich freiwerdende Kapital in Forschung und Entwicklung gesteckt werden können, erschließt sich nicht jedem, bzw. wird so auch selten kommuniziert. In der Implementierung selbst ist die Frage nach Qualitätssicherung eine der wesentlichen. Wie verifiziere ich, dass das angestrebte System und die abgebildeten Prozesse meinen Vorstellungen entsprechen und die Umsetzung durch den Implementierter auch verstanden wurde? Die Vorgabe von festen Implementierungszeitpunkten durch die Geschäftsführung erinnert mich immer an die Diskussionen mit meinen Töchtern, die doch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Woche ihr Zimmer aufgeräumt haben sollten. Schon 10- und 13-Jährige wissen, dass es darauf ankommt, zu definieren, was „aufgeräumt“ bedeutet. Bevor das nicht klar ist, wird kein
Termin gehalten werden. Zu guter Letzt ist die schiere Komplexität der Systemlandschaften und deren Ablösung durch ein oder zwei Systeme eine Herausforderung für sich. Hier gilt es aus unserer Sicht, bereits in der Implementierung besonderen Wert auf Transparenz und Qualität zu setzen.
Wolfgang Enking: Man sagt: „Qualität ist das Produkt aus Nutzen x Akzeptanz“. Bei den Projekten unserer Kunden orientieren wir uns gerne daran, denn es bringt die wesentlichen Erfolgsfaktoren eines Projektes in eine simple Formel. Wenn ein neues Softwarewerkzeug auch viel Nutzen für ein Unternehmen erzeugen kann, so ist die Akzeptanz der Anwender am Ende doch ein entscheidender Faktor für den Gesamterfolg.
In den letzten Jahren werden verstärkt agile Projektmanagementmethoden wie Scrum für PLM- und ERP-Einführungen benutzt. Wie sind Ihre Erfahrungen mit Methoden dieser Art? Ist das ein Lösungsansatz, um diese Stolpersteine zu vermeiden?
Sven Mahn: Werden sie? Wirklich? Oder bezeichnet man „Versuch und Irrtum“ als agil? Letzteres ist leider häufig der Fall. Als Feuerwehrmann kann ich nur sagen, eine enge Führung und Struktur sowie absolute Transparenz und Offenheit schützen nicht vor Fehlern oder ungeplanten Ereignissen, aber sie lassen einen auf diese kurzfristig reagieren und Entscheidungen fundiert führen. Es kommt für mich stark auf das Team und die Unternehmensphilosophie an, ob ein Projekt nach SCRUM oder anderen agilen Methoden durchgeführt werden kann. Gibt es einen hohen Grad an Disziplin und wird dem Team oder den Teams eine Selbstverwaltung zugetraut? Dann ist Agilität sicher ein Gewinn, da man so zumindest zu den Sprint-Results klar weiß, welche Funktionen vorhanden sein sollten, inklusive definierten erfolgreichen Unit-Test. Bei Wasserfallmethoden ist die lange Zeit des Wartens hinderlich, wird das Projekt nicht selten von äußeren Aktivitäten und Ereignissen ein- meistens gar überholt. Das macht teure Nacharbeiten oder das Justieren der Prozesse notwendig. Eine Dokumentationsflut kann zudem die Komplexität ins Unermessliche ausufern lassen und führt am Ende zu Frust und einem forcierten Go-Live, der dann eventuell weder dem Qualitätsanspruch genügt noch die ursprünglich angedachte und geforderte Funktionsumfänge bereitstellt.
Wolfgang Enking: In ERP-Projekten wird noch häufig mit dem Wasserfallmodell gearbeitet. Eine der Ursachen liegt sicher in der Ausstrahlung, die ein ERP-System auf so viele Prozesse in einem Unternehmen hat. Es ist schwierig, eine ERP-Umstellung „agil“ zu gestalten, gerade wenn es um die Schnittstellen und Verzahnung von verschiedenen Systemen in das neue ERP-System geht. Dennoch haben wir bereits bei einigen Kunden die agile Methode erfolgreich zum Einsatz gebracht und wir sehen darin eine attraktive Vorgehensweise, gerade wenn es um die Cloud-Technologien geht.
Da ERP- und PLM-Systeme das „offene Herz“ eines Fertigungsunternehmens sind, kommt der Qualitätssicherung bei der Tooleinführung eine große Rolle zu. Können Sie hier ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, wie sie in Ihren Projekten mit dieser Herausforderung umgehen?
Sven Mahn: Qualitätssicherung fängt bei der Auswahl des Systems in Kombination mit dem Anbieter/Implementierungspartner an und hört bei der Abnahme und dem Feiern des erfolgreichen Go-Lives auf. Als Anbieter für Dynamics AX und bekennender Qualitätssicherer stehen wir für offene und transparente Kommunikation und Dokumentation. Egal ob agil oder nach Phasenmodell, sobald ich die Anforderung kenne, können Testfälle erstellt oder die Akzeptanzkriterien definiert werden. Das fordern wir in unseren Projekten auch vom Kunden ein. Dies ist ein eklatanter Vorteil für die Arbeit der Entwickler, die bei identifizierten Gaps nicht nur gegen die Definition entwickeln, sondern auch unter Zuhilfenahme der Testfälle eine höhere Qualität ausliefern können – zumindest meistens. Menschen spielen immer eine intensive Rolle dabei, der eine mag genauer sein, der andere ist dafür innovativer und hat gute Ideen. Beide Typen in einem Projekt die richtige Qualität liefern zu lassen, ist die große Kunst. Dies versuchen wir bei der Rollenvergabe in Projekten zu beachten.
Wolfgang Enking: Nichts ist so teuer wie ein Fehler, der erst nach dem Go-Live entdeckt wird, denn dann hat der Schaden oft schon „Wellen geschlagen“. Leider wird dem Testen der Software noch immer eine zu geringe Wertigkeit eingeräumt. Dies führt dann zu sehr kurzen Zeiträumen für das Testen und oft zu sogenannten „Shortcuts“, in denen gewisse Funktionen erst gar nicht getestet werden. Wir thematisieren die Qualität bereits bei Beginn eines Engagements und gehen mit einer Methode vor, in der die Standardprozesse von Dynamics AX als Testfälle bereits im Design einer Lösung einfließen. Unterschiede zu kundenspezifischen Anforderungen werden so frühzeitig erkennbar. Der Fokus auf die Nutzung von Standardprozessen wird verstärkt und manchmal führt das dann zu einer guten Diskussion, ob ein Unternehmen damit nicht besser fährt als mit den gewohnten Prozessen.
ERP- und PLM-Systeme selber unterliegen ja auch einem Lebenszyklus. Neue Major Releases vom Softwarevendor oder Erweiterungen des Funktionsumfangs verlangen vor dem Einspielen in das Produktivsystem beim Kunden ebenfalls nach Qualitätssicherung. Welche Strategien und Methoden wenden Sie hier an?
Sven Mahn: Allerdings, die Zeiträume zwischen den Major Releases werden auch noch immer kürzer. In der Regel zieht hier die Dokumentationskarte. Je besser wir im Projekt dokumentiert haben, desto einfacher ist ein Releasemanagement. Letztendlich sind doch die Themen „Prozesse“, „Datenstand“ und „Softwarereleases“ in Kombination mit den Ständen der Testfälle ein zusammenhängender Komplex, der aus den Projekten heraus häufig zum Erliegen kommt. Dabei sind Implementierungsprojekte die Keimzelle definierter Prozesse für die Einhaltung eines Releasemanagements und der Dokumentation von Abweichungen, die durch eigene erforderliche Anpassungen entstanden sind. Die Verzahnung der Daten-, Software-, Testfall- und Konfigurationsreleases ist ein guter Lösungsansatz, um kontinuierliche Integration und Updatezyklen in kleineren Etappen durchzuführen. Je länger ein Update auf sich warten lässt und je weniger Dokumentation in den besagten Objekten vorliegt, desto grausamer wird ein Release. Eine Besonderheit sind hier die von den Unabhängigen Softwarelieferanten (ISV) angebotenen horizontalen und vertikalen Lösungen. Je nach Integrationsgrad und Alter der originären Lösung sollte eine genaue Begutachtung erfolgen. Nicht jeder ISV ist in der Lage, seine Branchenlösung kontinuierlich an die neuen Updates des Herstellers anzupassen; manche sind zwar in der aktuellsten Version verfügbar, weisen aber eine ungeeignete, weil veraltete Architektur aus. Man hat schlichtweg nicht die Zeit, die eigene Lösung an die neuen Funktionen und Architekturen komplett anzupassen, macht es manchmal auch den Nutzen der Branchenlösung selbst zunichte.
Wolfgang Enking: Die heutige Dynamik in der IT ist der wesentliche Grund für den schnellen technologischen Fortschritt. Insbesondere Cloud-Technologien bieten viele neue Möglichkeiten. Die Unternehmen werden damit vor enorme Herausforderungen gestellt, denn einerseits will man den Zug ja nicht verpassen, aber Schritt zu halten mit der Flut von Neuerungen ist extrem schwierig. Wie Sven schon sagte: Die akkurate Dokumentation der Prozesse und der damit verbundenen Daten ist der Schlüssel zum Erfolg. Je besser die Systemlandkarte, desto einfacher gelingt es, neue Technologien und Erweiterungen zu nutzen oder auszusperren.
Blicken wir zum Abschluss noch einmal in die Zukunft. Wie geht es für PLM-/ERP-Systeme weiter?
Wolfgang Enking: Wir erwarten eine zunehmende Akzeptanz von Cloud-Systemen auch in Deutschland. Damit sind viele neue Möglichkeiten verbunden, Prozesse im Unternehmen neu zu gestalten und zu vereinfachen. Wir werden uns immer mehr damit befassen, zu überlegen, welche Prozesse durch Systeme, Assistenten oder Roboter umgesetzt werden sollte und welche Aufgaben und Entscheidungen durch die Mitarbeiter verantwortet werden sollten. PLM- und ERP-Systeme spielen hier eine zentrale und wesentliche Rolle. Wir sind bereit, die Brücke in die Zukunft gemeinsam mit unseren Kunden zu bauen. Es bleibt spannend, was wir in diesem Umfeld in den kommenden Jahren erleben werden …
Vielen Dank an Sie beide für dieses informative Gespräch. Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg und gutes Gelingen in Ihren Projekten.